Nostalghia
Geschrieben von sjAlfur unter 2046
Beginnen wir mit Berlin. Als ich mit der S-Bahn durch die Stadt fuhr, kam mir die - vermutlich sehr ausgetretene - Idee, Fotos zu machen und sie nebeneinander zu stellen. Links die Bauruinen, rechts die modernen Bauten, die in der Realität bunt gemischt nebeneinanderstehen. Zwein Herzen in einer Brust, in vielerlei Hinsicht, ist ja bekannt. Wobei, wie ich im Beitrag zuvor festgestellt habe, es müssten eher zwei Pulsschläge in einem Handgelenk sein. Oder einfach nur das linke und das rechte? Irgendwo (spätestens) hier beginnt der Vergleich zu hinken. Deshalb lass ich das mal lieber.
Wenn man mit der Bahn fährt oder die belebteren Straßen betrachtet, bekommt man ein Bild von der Stadt. Natürlich behaftet mit Vorurteilen und Klischees, aber es ist ein Eindruck, kein wissenschaftlicher Bericht. Und die alten Menschen auf den Straßen, in den Geschäften und Bahnen, halten diesem Eindruck einen Spiegel vor.
In Berlin saß ich drei alten Frauen gegenüber, die vermutlich alle jenseits der 80 waren. Achtzig Jahre Berlin, rechnet man das zurück, steht man im Jahr 1927 in einer völlig anderen Stadt. Und auf eine schwer zu benennende, subtile Art kann man den Lauf der Zeit sehen, wenn man in ihre Gesichter blickt. Und dann wechseln sich die alten Bauruinen, einsturzgefährdeten Plattenbauten, modernen, gläsernen Firmengebäude, Bunkertüren im Berliner U-Bahn-System, Lichtinstallationen an der Oberbaumbrücke, von verschiedenster Hand abgerissene Paläste und Schlösser, Fernsehtürme, an der Autobahn stehende Rennstreckentribünen, Tore ohne Mauer und Säulen ohne Sieg in so schneller Reihenfolge ab, dass man sich einen Moment lang fragt, wo in dieser langen Kette an Bildern man eigentlich in diesen Film einsteigen will...
Ich steige hingegen aus und begutachte die Fans von Union Berlin, die dem Ostkreuz schon fast so etwas wie einen Funken Lebensfreude geben. Mein Bruder sagte nur wenige Minuten vorher, dass das Südkreuz wohl so ziemlich der hässlichste Bahnhof sei, den er kenne. Ich war dda schon. Ich kann mich nicht mehr so ganz deutlich daran erinnern, aber... hier am Ostpunkt des Rings ist es auch nicht wirklich schöner.
Ausstieg Storkower Straße. Zu deren Entschuldigung muss man vielleicht sagen, hier waren die Viehhöfe, auch wenn ich nicht weiß, inwiefern das wirklich die Umgebung entschuldigen soll. Am Gelände des Studentenwerks steht ein Schild "Betreten und Befahren auf eigene Gefahr". Am Tag zuvor hat mir Niels erzählt, die leerstehende Häuser neben seinem Wohnheim wären so marode, dass schon hin und wieder Balkone heruntergefallen sind. Ich danke der Tatsache, dass die Balkone auf der anderen Hausseite sind, und gehe weiter.
In Berliner Nostalgie zu verfallen ist gefährlich. Keine Frage. Ebenso gefährlich, wie sie zu ignorieren. Und trotzdem: Wenn es irgendeinen Ort gibt, der allen wochenlangen Depressionen und allen ausufernden, funkensprühenden und selbstzerstörerischen Hochphasen eine Kulisse gibt, dann ist es diese Stadt. Wieviele großartige Ideen, megalomanische Projekte und zum Scheitern verurteilte Selbstheilungsversuche auf halber Strecke im Sande verlaufen können, Berlin zeigt es.
Und so wird es wohl ein weiterer Ort, den ich - wie jeden meiner Wohnorte zuvor - abgöttisch lieben und noch viel mehr hassen werde. Vielleicht intensiver, wer weiß das schon...?
.x... sjÁlfur
[ epilog ]
als ich dan aus berlin fort fuhr, lief im auto "the destruction of small ideas". aber nur ganz leise, eine kleine reminiszenz an mich selbst...
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